Embedded-PC mit Motion Control Servoachsen koordinieren

Embedded-PC mit Motion Control
Servoachsen koordinieren

Beim Streckbiegen von Blech erwies sich das Retrofit einer Streckbiegeanlage für Pkw-Tankhalter als harte Nuss. „Geknackt“ werden konnte diese mit einem Embedded-PC mit Motion Controller, der nahtlos fließende Satzübergänge über „on-the-fly“ beim Teachen errechnete Kurvenscheiben und die elektronische Kopplung von vier Servoachsen an einen virtuellen Master realisiert.
Wo andere meist aufhören, fängt er gerne erst an“. So charakterisiert der lokale Vertriebsingenieur von Siemens Köln einen seiner für komplexere Automatisierungslösungen bekannten Kunden, die Jürgen Fuhrmann Elektrotechnik GmbH (JFE) aus Attendorn. Das mittelständische Unternehmen bietet auch individuellen Sondermaschinenbau. Der Schwerpunkt liegt bei Anwendungen rund um das Handhaben, Biegen, Schneiden und Schweißen von Rohren, Drähten und Blechen. Aus diesem Metier kommt auch eines der kniffligsten Projekte der letzten Zeit: die mechanische und elektr(on)ische Modernisierung einer Streckbiegeanlage für Pkw-Tankhalter aus Flachband. Auftraggeber war die Kico Kirchhoff Gmbh & Co, KG, ein Systemlieferant der Automobilindustrie. Besagter Streckbieger produziert seit über 25 Jahren Tankhalter in diversen Formvarianten und Materialien, von Aluminium- über Stahl- bis zu Edelstahlblech. Er wurde von Hydraulik- auf Servoantriebstechnik umgerüstet, die jedoch mit der Zeit immer häufiger ausgefallen ist. Auch die Ersatzteilversorgung entwickelte sich zunehmend zum Problem. Damit hat sich der Betreiber an die Firma JFE gewandt, die eine zukunftssichere Lösung finden sollte. Beim Streckbiegen wird ein (hier bereits in mehreren Schritten vorbearbeiteter) Blechstreifen beidseitig in Spannvorrichtungen gefasst, von oben nach unten über das Werkzeug gezogen und dabei auch in Querrichtung exakt überbogen, so dass nach der Rückstellung formgenaue, maßhaltige Halter entstehen. Diese sind so gut wie nie symmetrisch, das heißt die Verfahrwege (in X- und Y-Richtung) und Geschwindigkeiten der beiden Spannvorrichtungen sind auf beiden Seiten unterschiedlich. Dennoch muss auf das Blech kontinuierlich eine definierte Zugkraft aufgebracht werden, um das Material im elastischen Bereich über der Fließ-/Streckgrenze zu halten. Das alles wollte man ohne aufwändige Kraftregelung und nur über eine ausgeklügelte Drehzahlregelung bzw. Positionierung realisieren. Dabei könnten selbst kürzeste Unterbrechungen im Bewegungsablauf zu einer unkontrollierbaren Rückstellung oder Verformung führen und zu hohe Kräfte (Beschleunigungen) das Blech zerstören. Das Material und damit der Biegeablauf müssen kontinuierlich fließen. Darüber hinaus sollte der Ablauf für neue Produkte oder bei veränderten Eigenschaften einfach einzurichten, zu teachen und anschließend präzise reproduzierbar sein – und natürlich sollte nach Möglichkeit auch die Ausbringung gesteigert und die Ausschussquote beim Einrichten reduziert werden. Von Anfang an in die Lösungsfindung involviert war Siemens. Zur Diskussion standen unterschiedliche Ansätze, von der CNC-basierten Lösung über eine SPS mit Technologie-CPU und eine rein antriebsbasierte Umsetzung bis zum Motion Control System. Durchgesetzt hat sich letztlich das neue Motion Control System Simotion P320 für die Bewegungsführung im Verbund mit einer den restlichen Ablauf verarbeitenden Steuerung Simatic S7 300 und einem Simatic Multi-Panel MP277 Touch für das Teachen. Nur mit dem Motion Controller ließ sich der fließende Bewegungsablauf wie gefordert umsetzen. Simotion P320 ist ein kompakter und wartungsfreier, unter rauen Einsatzbedingungen bewährter Embedded Industrie-PC. Für die Bewegungsführung dienen Windows Embedded Standard 2009 und ein echtzeitfähiger Simotion-Kernel. Simotion P320 verbindet die Robustheit einer SPS mit der Motion-Control-Funktionalität von Simotion, da er keine rotierenden Bauteile wie Lüfter oder Festplatte enthält. Im Umfeld von Schweißaggregaten gewährleistet sein Ganzmetallgehäuse hohe elektromagnetische Verträglichkeit (EMV). Betriebssystem, Motion Control- und Anwendungsprogramm(e) laufen auf einer CompactFlash-Karte mit 4GByte Speicherkapazität. Für hohe Rechenleistung sorgen ein aktueller Intel Core 2 Solo Prozessor mit 1,2GHz Taktfrequenz und 2GByte Arbeitsspeicher (DDR3 SDRAM). Die Verbindung zur Automatisierungsebene stellt eine Profinet IO-Schnittstelle (mit drei Ports) her. Unterstützt werden Profinet IO mit IRT (Isochronus Realtime) bei Taktzeiten bis zu 250µs und RT (Realtime), das System ist konfigurierbar als Profinet IO-Controller und/oder Device. In diesem Fall wird Profinet IRT zur Kommunikation mit der Control Unit des Antriebssystems Sinamics S120 genutzt, jedoch kaum gefordert, da der Biegeprozess bei einer Taskzeit von 2ms keine hohen Anforderungen stellt. Die Kommunikation zur überlagerten SPS (und darüber zur IT-Welt) läuft über die interne Ethernet-Schnittstelle des Motion Controllers.

An Master gekoppelt

Mit der Umsetzung der Simotion-Anwendung wurde aus Zeitgründen ein Applikationsingenieur von Siemens Köln betraut. Die Idee von Fuhrmann war es, die Verfahrwege und geschwindigkeiten der beiden Spannvorrichtungen über Kurvenscheiben im Gleichlauf zueinander und an einen virtuellen Master in Simotion zu koppeln, der die maximale Geschwindigkeit von 12m/min vorgibt. So ließ sich sicherstellen, dass alle Achsen immer zur gleichen Zeit ihre in bis zu 40 (basierend auf Erfahrungswerten geteachten) Verfahrsätzen gespeicherten Endpositionen erreichen. Der elektronische Gleichlauf verhindert dabei, dass eine Achse bei einer Sollwegvorgabe „0“ gleich zum nächsten Verfahrsatz übergeht und dann auf die anderen Achsen wartet, wie das ohne Gleichlauffunktion der Fall gewesen wäre. So laufen alle Achsen gemeinsam von einem Verfahrsatz zum nächsten – absolut unterbrechungs- und ruckfrei. Weil das Prinzip so gut funktioniert hat, wurde auch die Rückwärtsbewegung der Achsen in die Nullstellung auf diese Art und Weise umgesetzt. Mit der neuen Lösung ist die Ausschussquote deutlich gesunken, da Positionen beim Einrichten satzweise angefahren und korrigiert werden können. Bisher musste immer erst der gesamte Ablauf parametriert und abgefahren werden, erst dann konnte die Qualität beurteilt werden, was deutlich mehr Fehlerteile bedeutete. Um beim Teachen korrigieren zu können, mussten die Kurvenscheiben sofort nach der Übernahme der Positionswerte „on-the-fly“ berechnet werden können. Das hat neben mathematischem Verständnis auch ein leistungsstarkes PC-System erfordert. Simotion P320 verfügt über diese Rechenleistung, berechnet die Kurvenscheiben in kurzer Zeit und ermöglicht so zügiges Einrichten ohne lange Wartezeiten. Im laufenden Betrieb werden dann nur noch die berechneten Werte aus den Kurvenscheibentabellen via Profinet an das Antriebssystem Sinamics S120 übergeben, das die vier Servomotoren 1FK7 koordiniert. Auch Produktionswechsel wurden optimiert. Im Bedien-Panel hinterlegte Programme („Rezepturen“) werden automatisch dem eingesetzten (codierten) Werkzeug zugeordnet. Wie alle Simotion-Plattformen enthält auch die Embedded-PC-Variante einen Webserver (Simotion IT-Diag), der standardisierte (alternativ auch anwenderspezifische) HTML-Webseiten unter anderem für die Inbetriebnahme und die Fehlerdiagnose bereitstellt. Der (autorisierte) Abruf dieser Seiten erfolgt über eine der integrierten Ethernet- oder Profinet-Schnittstellen und einen Standard-Webbrowser. Das ist auch im sogenannten „Headless“-Betrieb (ohne HMI-Gerät am Simotion-Controller) und ganz ohne Engineering-System möglich – und das nicht nur im Maschinennetz, sondern auch über Intranet oder Internet. „Wir haben diesen einfachen und schnellen Zugang unter anderem dazu genutzt, um das Zusammenspiel der vier Einzelantriebe vor Ort zu visualisieren und zu optimieren“ so Programmierer Rolf Drefs. Mit der neuen Automatisierungs- und Antriebstechnik lässt sich der Streckbieger noch näher an der Grenze des mechanisch Machbaren und mit absolut reproduzierbarer Genauigkeit betreiben. Dadurch konnte die Ausbringung um rund 20 Prozent gesteigert werden. Anlagenbetreiber Kico ist rundum zufrieden mit den Resultaten des Retrofits, das automatisierungsseitig in knapp drei Tagen abgeschlossen ist.

Siemens AG
www.automation.siemens.com

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